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Masterarbeit/ Inspirations- Entwicklungsraum und das Tonerlebnis im Menschen (Autorin: Selma Fricke)

Updated: Jul 7, 2019

….Auszug aus dem Kapitel Konzepte und Methoden zur Ich Entwicklung und zu transformativen Prozessen.


Was bedeutet Ich-Entwicklung?

Thomas Binder zitiert in seinem Buch „Ich-Entwicklung und effektives Beraten“ auf Seite 22, eine treffende Formulierung von William James für die Beschreibung des Ich-Begriffes. Diese lässt sich auch in der anthroposophischen Betrachtung des Menschen wiederfinden und damit vergleichen.

„Das Mich und das Ich – was auch immer ich gerade denke, bin ich mir immer zur gleichen Zeit meiner selbst bewusst, meiner persönlichen Existenz. Zur gleichen Zeit bin Ich es, der bewusst ist; so dass das ganze selbst von mir, als ob es zweiseitig wäre, zum Teil erkannt und zum Teil erkennend, zum Teil Objekt und zum Teil Subjekt, zwei Aspekte sind, die voneinander unterschieden werden müssen. Der Kürze halber können wir das eine Mich und das andere das Ich nennen“ (1892/1963)[1]

Dazu ist das Ich unsere bedeutungsbildende Instanz, mit welcher wir der Welt und ihren Erscheinungen Bedeutung und Sinn zusprechen.

„Hinter jeder Denkbewegung steht als Ursache das Subjekt des Denkens, der Denkende, und dies genau ist der tätige Geist! Der Denkende realisiert sich an der <<Materie>> bzw. dem Material der Gedankenbildung. In diesem Sinne ist Denktätigkeit als Ich-Tätigkeit nicht das Denken allein, sondern die Verwirklichung von Ich-Möglichkeit, die sich in und durch die Denktätigkeit vollzieht.“[2]

Wird an dieser Stelle der „tätige Geist“ als das denkende Ich in Beziehung zur Zeit erfasst, so kann sich daraus ein sinnvoller Ansatz erschließen, mit Fragen aus der eigenen Biographie bewusst umzugehen und damit einen Sinn für Lebens-, Lern- und Sterbeprozesse zu bilden.

Die Autoren gehen in beiden Zitaten auf den Menschen als ein denkendes Wesen ein, welches den Begriff des eigenen Ichs an sich hervorbringt.

Es folgt eine kurze Beschreibung der einzelnen Stufen des Ich-Entwicklungsmodells.

Das Ich-Entwicklungsmodell nach Jane Loevenger umfasst ca. 9 bis 10 Entwicklungsstufen. Diese werden in eine präkonventionelle, eine konventionelle und eine postkonventionelle Ebene zusammengefasst. Darin zeigt sich ein Pendelschlag der Ich-Entwicklung zwischen eher gemeinschaftsorientierten Entwicklungsstufen und den sogenannten Ego-zentrierten Stufen. Dazwischen gibt es Stufen, die sich weder nach der einen, noch besonders nach der anderen Seite hin orientieren, sondern mehr in einem Gleichgewicht zwischen egozentrisch und gruppenorientiert anzusiedeln sind.

Die einzelnen Stufen der Ich-Entwicklung lassen sich mit einer kurzen Charakteristik wie folgt beschreiben:

        

E 3

Entwicklungsstufe

Selbstorientierte

Stufe

präkonventionell


Hauptcharakteristika

Eigener Vorteil steht im Vordergrund, andere Menschen

werden als Mittel zu eigener Bedürfnisbefriedigung

gesehen, weniger als Wert an sich, opportunistisches

Verhalten anderen gegenüber.

---

Eher kurzer Zeithorizont, Focus liegt zumeist auf konkreten

Dingen (weniger abstrakten Aspekten), Feedback wird

meist zurückgewiesen, stark stereotypes Handeln, Auge-um-

Auge-Mentalität, überwiegend externale Schuldzuweisungen.


E 4

Entwicklungsstufe

Gemeinschaftsbestimmte

Stufe

konventionell

Hauptcharakteristika

Denken und Handeln sind vor allem an Regeln und

Normen der relevanten Bezugsgruppen ausgerichtet, die

eigene Identität wird dadurch definiert, Zugehörigkeit

und Unterordnung unter deren Sichtweisen sind

vorherrschend.

---

Gesichtwahren ist zentral, starke Schuldgefühle, wenn

Erwartungen anderer verletzt werden, Konflikte werden

vermieden, Kontakte sind eher oberflächlich, es wird

vorwiegend in Entweder-oder-Kategorien gedacht.


E 5

Entwicklungsstufe

Rationalistische

Stufe

konventionell

Hauptcharakteristika

Orientierung an klaren Standards, sehr rationales Denken

und kausale Erklärungen herrschen vor. Motivation, sich

abzuheben von anderen. Feste Vorstellungen, wie Dinge

sind und laufen sollen.

---

Beginnende Selbst-Wahrnehmung, Selbstkritik und Sehen

verschiedener Perspektiven sowie Suche nach Motiven

für Verhalten, eher enges fachliches Denken und

Betonung von Effizienz statt Effektivität.


E 6

Entwicklungsstufe

Eigenbestimmte

Stufe

konventionell

Hauptcharakteristika

Voll entwickelte und selbst definierte (eigene) Werte,

Vorstellungen und Ziele (ausgebildete Identität). Starke

Zielorientierung und Selbstoptimierung.

---

Komplexität von Situationen wird akzeptiert, reiches

Innenleben, Gegenseitigkeit in Beziehungen, Respekt vor

individuellen Unterschieden (eigener Schatten der

Subjektivität wird häufig nicht gesehen).


E 7

Entwicklungsstufe

Relativierende

Stufe

postkonventionell

Hauptcharakteristika

Beginnendes Bewusstsein darüber, wie die eigene

Wahrnehmung die Sicht auf die Welt prägt, stärkeres

Hinterfragen der eigenen Sichtweisen (und der von

anderen Menschen). Relativistische Weltsicht.

---

Größere Bewusstheit gegenüber inneren/äußeren

Konflikten und Paradoxien (ohne diese integrieren zu

können), sehr individuelle/persönliche Art.


E 8

Entwicklungsstufe

Systemische

Stufe

postkonventionell

Hauptcharakteristika

Voll ausgebildete Multiperspektivität, gleichzeitige

Prozess- und Zielorientierung, systemisches Erfassen von

Beziehungen (Zirkularität). Ist fähig, sich widersprechende

Aspekte und Meinungen zu integrieren. Hohe Motivation,

sich selbst weiter zu entwickeln.

---

Offene, kreative Auseinandersetzung mit Konflikten,

hohe Toleranz für Mehrdeutigkeit. Hoher Respekt vor

Autonomie anderer Personen und Aussöhnung mit

eigenen negativen Anteilen.


E9

Entwicklungsstufe

Integrierte Stufe

postkonventionell

Hauptcharakteristika

An kein explizites System (Werte, Einstellungen, Praktiken

etc.) mehr gebunden, Erfahrungen werden laufend neu

bewertet und in andere Zusammenhänge gestellt

(„reframing mind“). In hohem Maße selbstaktualisierend.

---

Kann Paradoxien integrieren, hohe Bewusstheit

gegenüber eigenem Aufmerksamkeitsfocus, besonderes

Gespür für Symbolik.


E 10

Entwicklungsstufe

Fliessende Stufe

postkonventionell

Hauptcharakteristika

Bedürfnis, Dinge und Personen zu bewerten, wird

aufgegeben. Verschmelzung mit der Welt, kein weiteres

Festhalten, sondern sich auf den Fluss der Dinge

einlassen.

---

Spielerische Abwechslung zwischen Ernst und Trivialem,

ineinander übergehen unterschiedlicher Bewusstseinszustände,

Denken in Zeitzyklen und historischen

Dimensionen, volles Akzeptieren von Andersartigkeiten

und Menschen, wie sie sind.

Quelle: © Dr. Thomas Binder, Überblick über Ich-Entwicklungsstufen (Siehe ausführliche Darstellung im Anhang)


Innerhalb unserer westlichen Kultur hat sich nach dem Forschungsstand zur Ich-Entwicklung herausgestellt, dass die Gesellschaft eine Entwicklung bis zur Stufe 6, aber nicht darüber hinaus unterstützt. Das bedeutet, dass eine relativistische Weltsicht in der Regel bei einem Großteil der Bevölkerung auf Unverständnis und nicht auf eine positive Resonanz stößt. Hat ein Mensch in seiner Entwicklung diese Stufe erreicht, so bleibt ihm folglich, um sich weiter in seiner Persönlichkeit zu entwickeln, nur die Schulung an dem eigenen Selbst. Er kann sich dann nicht mehr auf das unmittelbare Umfeld stützen, besonders wenn dies durch festgelegte Werte, Einstellungen und Praktiken geprägt ist. Eine vorher etablierte und ausgeprägte Entwicklung auf der eigenbestimmten Stufe (E6), kann dafür eine solide Grundlage bilden. Für den Ich-Entwicklungsprozess gilt:

„Nur wer ein eigenständiges Selbst entwickelt hat, kann sich daraufhin auch wieder davon lösen.“ (Mündlich zitiert frei nach Thomas Binder aus dem Zertifizierungsworkshop 2019)

Diese Lösung geschieht zunehmend auf der postkonventionellen Ebene. Hier wird die Trennung zwischen Selbstbezug und Weltbezug immer mehr aufgehoben und der Wechsel dazwischen fließend. (Vgl. BINDER 2019)

Jane Loevenger selbst beschreibt in ihrer Definition das Ich als einen Prozess:

„Das Ich ist vor allem ein Prozess und nicht ein Ding. Das Ich ist in einer Art wie ein Gyroskop [Kreiselkompass], dessen aufrechte Position durch die Rotation aufrechterhalten wird. Oder um eine andere Metapher zu benutzen: Das Ich ähnelt einem Bogen. Es gibt einen Spruch in der Architektur, der sagt „der Bogen schläft nie“.

Das bedeutet, dass die Gewichte und Gegengewichte des Bogens seine Form aufrechterhalten sowie das Gebäude stützen. Piaget benutzt dafür den Ausdruck „mobiles Equilibrium“ - je beweglicher, desto stabiler. Das Streben, die Erfahrungen zu meistern, zu integrieren und ihnen Sinn zu verleihen ist nicht eine Ich-Funktion unter vielen, sondern die Essenz des Ichs“[3] (1969, S. 85, e.Ü)





Abb.2: Ich-Entwicklungs-Stufen nach Thomas Binder[4] und strukturelle Identität.

Die stufenweise Entwicklung des Ich vollzieht sich nach dem Modell von Loevinger in einer Pendelbewegung zwischen Autonomie und Verbundenheit. Betrachtet man das Modell genauer, so findet jeweils auf der Stufe 4 und der Stufe 6 eine Entwicklung auf der autonomen Ebene statt. Die in dieser Arbeit durchlaufene Entwicklung wird genau an dieser Stelle angesiedelt. In der Phase zwischen Stufe 5 und 6 mit einem sich vorbereitenden Übergang in die relativierende Stufe 7. Diese Aussage kann gestützt werden auf die Auswertung des Fragebogens (siehe Anhang).

Es folgt ein kurzer Blick auf das Transformationsmodell nach Otto Scharmer.


2. 5 Das Transformationsmodell der Theorie U

nach Otto Scharmer

In seinem Buch „Theorie U: Von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik“(2014) entwickelt Otto Scharmer ein Modell, in welchem er dem Ansatz folgt, Einfluss nehmende Gedanken und Verhaltensmuster aus der Vergangenheit loszulassen, sich im geistesgegenwärtigen Moment zu verorten und sich mit einer offenen Haltung gegenüber der Welt neu inspirieren zu lassen.

Im diesem U-Prozess lassen sich drei zentrale Bewegungen wie folgt bezeichnen:


(1) Loslassen des Bisherigen

(2) Bei Sich ankommen und das Neue entstehen lassen

(3) Das Neue in die Welt bringen


Dieser Ansatz lässt sich sowohl in der Arbeit im Inspirations-Entwicklungsraum, als auch in der Arbeit des Ensemble Ihoch3 wiederfinden. Daraus entstanden ist ein experimenteller Raum und eine Grundlage für eurythmische Improvisation und situative Komposition. In der Beschreibung und Auswertung des Arbeitsprozesses wird das Bild der Theorie U zur Darstellung des Prozesses genutzt. (Siehe Kapital 4)

"Während Meditation und Achtsamkeit heute fast Mainstream geworden sind, erleben wir gerade eine zweite Welle der Achtsamkeitskultur. Menschen bringen eine neue Form des Sehens und Wahrnehmens in Wir-Räume, in die Dialogarbeit, in unser persönliches und gesellschaftliches Miteinander. Soziale Achtsamkeit hat die Kraft, unsere Kultur zu verändern. Sie öffnet einen Raum jenseits unserer technischen, funktionalen und vereinzelten Beziehung zum Leben. Ihre Tiefe und Unmittelbarkeit erlaubt uns, neu zu sehen, wie wir als Menschen miteinander leben können." [5]

Die in den folgenden Kapiteln beschriebenen Settings gehen durch einen solchen Prozess des sich Lösens hindurch. Scharmer spricht an dieser Stelle davon, dass man den Bereich des „Downloading“ verlässt. In der Mitte steht der offene Mensch, bzw. Menschen, welche ihre Wahrnehmungsfähigkeit erweitern, ihre Gedanken, ihre Gefühle und ihren Willen transformieren und bereit sind anders zuzuhören. In dem Modell zur Ich – Entwicklung wird dieser Schritt am Übergang von der eher eigenbestimmten Stufe (E6) zu der relativierenden Stufe vermutet (E7).



2.6 Transformation als ein Schritt in der Ich-Entwicklung

„Sich lösen von Einfluss nehmenden Gedanken und Verhaltensmustern“

Entwicklung findet im Augenblick der Verwandlung, der Metamorphose statt. Im Inneren der Knospe bildet sich die Blüte, im Verborgenen der Frucht reift der Samen, die Raupe spinnt sich ein in ihren Kokon, bevor sie sich zum Schmetterling entpuppt. Sich zurückziehen und besinnen, ist ein Schritt im Schulungsweg, welchen Rudolf Steiner mit dem Wort „Gelassenheit“ oder „inneres Gleichgewicht“ als dritten Schritt der sechs Nebenübungen beschreibt. Wird ein Gedanke neu gegriffen, webt sich dieser hinein in einen Empfindungsprozess und spiegelt sich wider in der äußeren Erscheinung. Dadurch wird ein neuer Ausdruck möglich z.B. in der Sprache, einer neuen Geste oder neuen Gewohnheit/ Handlung.

„In diesem Sinne sind die praktischen Wirkungen geistiger Tätigkeit nicht ohne weiteres zu erkennen. Es handelt sich dabei insofern um eine geistige Praxis, als durch geistiges Interesse und entsprechende Tätigkeit sich seelische und damit leibliche Existenzgrundlagen verändern. Daneben ist eine entscheidende Wirkung der Anthroposophie oftmals in einer Modifikation des Sprechens spürbar – und bleibt dennoch leicht unbemerkt. Eine solche geistige Wirkung ist ungeheuer „praktisch“, weil sie weitreichende Folgen hat. Durch das geistige Interesse entwickelt sich die Art des eigenen Sprechens, auch wenn dies nicht an der Inhaltsebene festzumachen ist. Es kommt im Sprachgestus zu feinen Nuancierungen der Atmung, die auch weiterwirken, wenn der Mensch nicht spricht. Und über die Atmung wird allmählich der mittlere Mensch, das Herzgeschehen, und schließlich, damit verbunden, das körpereigene Flüssigkeitssystem beeinflusst.“[6]

Man kann den Prozess einer Transformation in Bezug auf alte Gedanken und Verhaltensmuster auch mit einem Sterbeprozess vergleichen. Wenn sich beispielsweise die Gedanken und Gewohnheiten einer Person auf Schwierigkeiten im sozialen Umfeld, sei es beruflich oder privat, beziehen, so lässt sich dieser Prozess mit sozialeurythmischen Übungen begleiten. Dazu findet sich in der Haltung eine Parallele mit der Begleitung von sterbenden Menschen.

In dem Transformationsprozess findet eine Verwandlung statt. Ein Gedanke, eine Vorstellung, ein Verhaltensmuster oder ein Glaubenssatz wird aufgelöst. Damit verwandelt sich auch Selbstgefühl.


[1] James, W. (1892/1963) Psychology, Greenwich, CT: Fawcett


[2] Klünker, Wolf-Ulrich. Selbsterkenntnis Selbstentwicklung, Zur Psychotherapeutischen Dimension der Anthroposophie (S.56).


[3] Dieses Zitat ist einem Skript zur Ich-Entwicklung aus einem Zertifizierungsworkshop von Thomas Binder entnommen. Die darin enthaltene Quellenangabe lautet: Loevinger, J. (1969): Theories of ego development. In L. Breger (Ed.), Clinical-cognitve psychology: Models and integrations (pp.83-135). Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall


[4] Binder, Thomas (2010): Wie gut verstehen Berater ihre Kunden? Ich-Entwicklung – ein vergessener Faktor in der Beratung. In: Stefan Busse & Susanne Ehmer (Hrsg.), Wissen wir, was wir tun? Beraterisches Handeln in Supervision und Coaching (S. 104–132). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.Entnommen von der Webseite Die Österreichische Volkshochschule, Magazin für Erwachsenenbildung.


[5] Scharmer, Otto aus einem Artikel der Zeitschrift Evolve SOZIALE ACHTSAMKEIT – Die Kraft des Beziehungsraums Ausgabe 22 / 2019


[6] Wolf-Ulrich Klünker, Anthroposophie als Ich-Berührung Aspekte geistiger Begegnung, Manuskriptdruck DELOS-Forschungsstelle Eichwalde (Erscheinungsjahr unbekannt) Veröffentlicht in den Mitteilungen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland




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